Sunna'93 - Kapitel 4
Wir landeten spät nach Mitternacht in Keflavik auf Island, einer Mondbasis, auf einem der äußeren Saturnmonde.
8. April 2017, 21:58
Ich stieg aus der Luftschleuse, folgte dem Korridor, öffnete das Sichtfenster meines Astronautenhelms, atmete erschöpft aus und starrte auf die Kraterlandschaft links und rechts neben mir, Saturn und Sonne standen noch immer hoch am Himmel, der Himmel war hell und weiß, notierte ich in mein Notizbuch und hätte ich von hier aus die Ringe des Saturns tatsächlich gesehen, ich wäre nicht überrascht gewesen.
Ich wurde bereits erwartet, man winkte mich zu einem Shuttlebus durch, der mich nach Reykjavik bringen sollte, ein großgewachsener, blonder Hüne in einer ausgewaschenen Armeejacke, ich nannte ihn Captain Pluto, sagte etwas und ich notierte etwas, etwas wie: "Alles steht bereit, Sir."
Der Bus fuhr los. Ich sah aus dem Fenster und stellte fest:
Island war wie ich.
Schwarzes Basaltgestein, das meterhoch getürmt in einer ausgebombten Landschaft neben der Straße lag, dazwischen ab und dann Häuser, potemkinsche Häuser, dachte ich, da kann und will niemand sein, dachte ich weiter, den Kopf an die Fensterscheibe gepresst und starrte auf die Abzweigungen, Schotterstraßen und asphaltierte Straßen, die von der Hauptstraße aus ins Nirgendwo, wahlweise ans Meer oder in ein gehügeltes Hinterland führten.
Das war das Zuhause von Sunna'93 und es fiel mir schwer zu glauben, dass hier, nahe am äußeren Rand des Sonnensystems, dieses zierliche Mädchen leben sollte, das Mädchen aus dem Bücherregal mit dem Buntstiftherzen von Seite zwei meines Notizbuchs.
Ich richtete mich auf, zog Stift und Buch aus der Tasche, als die Visitenkarte des Ingenieurs zwischen den Seiten hervorkam und zu Boden fiel, so als ob sich der Ingenieur in Erinnerung rufen wollte, eine Art dunklen Schatten vorauswerfen wollte, wie man wohl sagt, wenn man, wie man weiter sagt, die Spannung bis zum Äußeren treiben will.
Ich sah mich um, sah aber keinen Ingenieur, nur zwei deutsche Pärchen, die mit ihren jungen hohen Stimmen in belanglosen Gesprächen versanken, ein rothaariger, bärtiger Fischer, der seine Angelroute inspizierte und Captain Pluto, der mit äußerster Aufmerksamkeit den Bus über eine schnurgerade Straße lenkte.Ich zerknüllte die Visitenkarte, was mir nicht leicht viel, denn es war ein ungewöhnlich, hartes, dickes Papier und deponierte die Karte im Aschenbecher des Vordersitzes.
Ich setzte meinen Stift zum Schreiben an.
Als ich Sunna'93 zum ersten Mal traf, schrieb ich, hörte ich zum ersten Mal Musik.
Richtige Musik.
Ich war 16 und mit meinen Eltern auf Urlaub in einem Hotelbau einer spanischen Insel, verbrachte die Tage allein am Swimmingpool, den Blick sehnsüchtig über die Mauer auf den Atlantik gerichtet, den Horizont fest im Visier, zwischen der Mauer und dem Ozean meine Eltern, beim Sonnenbad auf großen Steinfelsen.
Sunna'93 lag am anderen des Swimmingpools, wasserstoffblonde Haare, darüber Kopfhörer, ihre Füße wippten im Takt der Musik, das Gesicht voller Sommersprossen, es fiel mir schwer ihr Alter zu schätzen, vielleicht 17, 18, sie hätte genauso gut 20 sein können, zeitlos schön lag sie auf der Liege, sah mich manchmal an und ich sah weg, ich wurde unruhig, sah wieder auf meinen Horizont, sah meine Mutter, sie winkte mir zu, ich winkte nicht zurück.
Es war Sunna'93, die mich ansprach, notierte ich zwischen zwei Klammern, am Büffet im Hotel, vor dem Fischbuffet, vor dem Steinbutt, der tot mit offenem Maul vor uns auf einem Silbertablett, auf einem Bett Zitronen lag, ich griff nach dem Messer, um ein Stück abzuschneiden und Sunna'93 griff nach demselben Messer, unsere Hände berührten sich, sie lächelte mich an und sprach mich an.
Sunna'93 kam aus Island, hörte die Sugarcubes, gab mir ihre Kopfhörer, um die Musik mit mir zu teilen und es fühlte sich an, als würde sie ein Geheimnis mit mir teilen, das Geheimnis hieß "Tidal Wave", das vierte Lied der Kassette, ihr Lieblingslied. Wir schlugen die Zeit miteinander tot, nicht mehr am Pool, sondern im Foyer des Hotels, saßen trotzig auf den Ledergarnituren, gingen in Opposition gegen Urlaub, Strand und gute Laune, stellten uns dumm, wenn der Rezeptionist versuchte uns zu verscheuchen, vergeudeten ganze Tage in diesem Foyer, unserer Parallelwelt, unterhielten uns über die Sugarcubes, über die Leute am Pool und die Tage schienen eingefroren, jede Minute wie ein Gummiband zum Zerreißen gespannt, ich schwebte durch die Tage, schwebte aus meinem Zimmer durch das Foyer und zurück, nahm mir vor sie zu küssen, im Foyer, zum vierten Lied auf der Kassette, hatte einen genauen Plan ausgearbeitet, nachts, wenn alle schliefen und ich im Zimmer Kreise zog, hatte ich mir ausgedacht, wie ich sie küssen würde.
Eines Tages war sie verschwunden.
Sunna'93 war abgereist, mit ihren Eltern, hatte die Kassette zusammen mit einem Zettel beim Rezeptionisten hinterlegt, hatte zwei Herzen auf den Rücken der Hülle gemalt und davor Sunna'93 geschrieben. Ich drehte die Kassette ungläubig im Kreis, suchte nach weiteren Botschaften und der Rezeptionist zuckte ratlos mit den Schultern.
Ich war am Himmel wie am Boden zerstört, notierte ich in mein Notizbuch und blätterte um, als mir plötzlich auffiel, dass mir das Gesicht des Rezeptionisten bekannt vorkam. Ich blätterte zurück, flog über die Zeilen, las bis zu der Stelle, die mir seltsam erschien:
Ich drehte die Kassette ungläubig im Kreis, suchte nach weiteren Botschaften und der Rezeptionist zuckte ratlos mit den Schultern.
Und wieder zuckte er mit den Schultern und grinste steif.
Zwischen Sakko und dem weißen Hemd und den streng nach hinten geölten Haaren entdeckte ich die Gesichtszüge des Ingenieurs.
Er beugte sich über die Theke, reichte mir die Kassette und sagte: "Bleiben Sie bei den Fakten, wir sehen uns in Island."
Danach verschwand er in einem Hinterzimmer. Eine Stille entstand zwischen den Zeilen, notierte ich in mein Notizbuch.
Ich steckte die Kassette ein und notierte die Ähnlichkeit des Rezeptionisten mit dem Ingenieur als ungewollten Tagtraum.
Wir saßen unsere verbleibenden vier Tage auf der Insel ab, ich schwor Sunna'93 zu finden, wir kehrten zurück, ich kaufte alle Alben der Sugarcubes, verbrachte Nachmittage im Bett, starrte auf die Herzen auf der Kassette, stellte mir vor, wo sie jetzt wohl war, in einem verschneiten Dorf, in einer Fischfabrik, mit Freunden in einem Lokal, Samstagabend, in einem Schneesturm, die Wochen vergingen, ich vergaß die Kassette, vergaß Sunna'93, meine Eltern ließen sich scheiden, ich machte meinen Schulabschluss und verließ die Stadt.