Von Karl Kreiner

Sunna'93 - Kapitel 6

Der Ingenieur kam nicht.

Den gesamten Tag saß ich wie ein ungeduldiges Kind im Foyer des Hotels, die Eingangstüre fest im Visier, ich verzichtete auf Frühstück und Mittagessen, verbarrikadierte mich auf der Ledercouch und hielt alle nötigen Pausen so kurz ich konnte.

Elle hatte eine Nachricht an der Rezeption hinterlassen, wann kommst Du nach Hause? Was ist mit Deinem Handy? stand auf dem Zettel geschrieben. Ich dachte daran sie anzurufen, doch ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, der Ingenieur füllte alles aus, jeden Gedanken hielt der Ingenieur in seinem Bann, jeden aufkeimenden Gedanken, der sich nicht um ihn drehte, verblies er wie der Wind die Flamme eines Streichholzes verbläst.

Ich erinnerte mich an das, was der Ingenieur gesagt hatte, dass er mir die Rolle des Feiglings zugedacht hatte und es kam mir in den Sinn, dass es zu einfach gewesen wäre, hätte er mich abgeholt und in den Norden Islands geschafft. Am Nachmittag verließ ich das Hotel, machte mich auf den Weg durch die Stadt, stellte mir vor, der Ingenieur hätte eine Spur hinterlassen, Brotkrümel gestreut, kleine Hinweise darauf, was jetzt zu tun wäre.

In einem Mülleimer fand ich eine leere Gaskartusche.

Vor dem Parlament verteilte ein Eisbär Werbezettel für eine neu eröffnete Autoreparaturwerkstätte im Süden der Stadt. Er überreichte mir feierlich einen grünen Zettel, der den Anfahrtsweg erklärte und schüttelte seinen Eisbärenkopf zufrieden von links nach rechts. Ein kleiner Bub auf der gegenüberliegend Straßenseite sah den Eisbären und begann zu weinen.

Zwei Hafenarbeiter rauchten eine Zigarette vor einem ausrangierten, von Rost überzogenem Fischkutter, der am Hafen vor Anker lag.

Ich fand keine Spur, kein Zeichen, oder nichts, was sich als Zeichen oder Spur deuten ließ.

Die Geschichte der Stadt machte weiter.

Die Geschichte machte ohne mich weiter.

Ich kehrte ins Hotel zurück, packte meine Sachen, ein Zorn packte mich und ich schlug das Notizbuch auf, zog einen Schlussstrich unter die ersten Seiten, einen dicken schwarzen Strich zog ich unter alles Erlebte und notierte mir eine Busfahrkarte nach Isafjördur, am gleichen Abend wollte ich noch aufbrechen, um Sunna'93 zu finden, gleichgültig, ob der Ingenieur das wollte oder nicht.

Ich würde seine Hilfe nicht brauchen, notierte ich.

Ich würde diese Geschichte zu Ende bringen, koste es was es wolle, schrieb ich in mein schwarzes Notizbuch, verließ das Hotel und machte mich mit einem neu geschaffenen Selbstbewusstsein auf den Weg zum Ende der Geschichte. Der Bus verließ Reykjavik am frühen Abend.

Die Busfahrt, notierte ich, war unspektakulär.

Nichts schien erwähnenswert auf der Fahrt in den Nordwesten, nicht die sanften Hügel im Norden von Reykjavik, die Straße, die sich entlang des Ozeans schlang, nicht die Überfahrt mit der Fähre von Stykkisholmur nach Gufudalur, nach der wir die asphaltierten Straßen gegen rot-braune Schotterstraßen und die Hügel gegen schroffe Berge eintauschten. Es war nicht erwähnenswert, dass die Dörfer verschwanden, die Fahrgäste im Bus immer weniger wurden, bis schließlich ich der Einzige war, der sich mit dem Busfahrer durch diese Einöde tastete.

Kurz vor Isafjördur blieb der Bus an einer Abzweigung stehen, die vordere Tür öffnete sich und der Busfahrer drehte sich um, ich sah sein Gesicht, ein mir bekanntes Gesicht, es war Captain Pluto, er winkte mich zu sich, ich folgte ihm hektisch. Er streut keine Brotkümmel, flüsterte Captain Pluto und deutete auf ein kleines, blaues Holzhaus auf einer Anhöhe, ein Holzhaus, dessen blauer Lack rissig geworden war und große weiße Flecken freigab.

Dort? fragte ich und ja, dort antwortete er. Ich stieg aus, blieb mit meinem Rucksack stehen, war ein Teil der Landschaft geworden.

Captain Pluto zwinkerte mir zu, schloss die Tür wieder und der Bus verschwand fauchend hinter der nächsten Kurve.