Von Karl Kreiner
Sunna'93 - Kapitel 9
Niemand kann sich seine Geschichte aussuchen, notierte ich in mein Notizbuch. Wir waren ins Haus zurückgekehrt, ich saß auf der Kellerstiege neben dem Ingenieur, der Rohre auswechselte. Ich reichte Schraubenschlüssel und Schraubenzieher, war Assistent, fügte mich den Anweisungen des Ingenieurs.
8. April 2017, 21:58
Wir bauten die Ersatzteile ein, die wir tagsüber erworben hatten, der Ingenieur hegte die Hoffnung, dass der Austausch dieser Teile die Maschine wieder zum Laufen bringen würde.
Das Bild von Sunna'93 war aus meinem Kopf verschwunden, es gab keine Sunna'93 mehr, ich war der Assistent des Ingenieurs, der in regelmäßigen Abständen in einen Kesselraum im Keller ging, um dort, wenn ich das Signal bekam, ein Ventil so weit ich nur konnte aufzudrehen, um es dann, nach einem weiteren Signal, wieder abzudrehen.
Ich sah zu, wie meine Geschichte kollabierte.
Es vergingen Stunden, es vergingen Tage.
Die Maschine funktionierte nicht, etwas klemmte, daran konnte auch der Ingenieur nichts ändern und ich begann mich zu fragen, warum der Ingenieur, der allen Schilderungen und Erklärungen nach ein Mann der Kontrolle und des Überblicks war, nicht im Stande war, dieses vergleichsweise kleine technische Problem in den Griff zu bekommen.
Nachts blieb auch ich nun wach, breitete meine Notizbücher auf dem Bett aus und suchte nach einer Möglichkeit, wieder Herr der Lage zu werden und tatsächlich fand ich eine Möglichkeit, ich dachte an die Kassette, die mich auf die Reise brachte, ich dachte an die Kassette, die ich erfand, um all das in Gang zu setzen, ich brauchte einen weiteren deus ex machina, ich wusste nur noch nicht wie ich das anstellen sollte.
Am darauf folgenden Tag machten der Ingenieur und ich uns wieder auf die Suche nach dem Fehler, ich verbrachte die meiste Zeit im Kesselraum, ich befolgte die Anweisungen des Ingenieurs, drehte an den Ventilen, wusste, das keine seiner Maßnahmen Wirkung zeigen würde.
Licht fiel durch ein Kellerfenster auf eine Stelle der Wand, die mir ungewöhnlich hell erschien, notierte ich in mein Notizbuch, so als hätte jemand vor nicht allzu langer Zeit hier ein Stück der Wand entfernt und durch ein baufremdes Stück Holz ersetzt. Ich begann mit den Händen auf die Wand zu klopfen und bemerkte die unterschiedlich hohen Töne, die mein Klopfen verursachte.
Hinter der Wand befand sich ein Hohlraum, wohl ein vergessener Hohlraum, notierte ich. Ich begann auf die Stelle einzutreten, das Holz gab nach, es entstand ein Loch, das größer und größer wurde und schließlich wurde ein Blick auf zwei Zahnräder, die an vorstehenden Achsen befestigt waren, frei, deren Abstand zueinander zu groß war, als das eines das andere in Bewegung setzen konnte.
Ich hatte meinen deus ex machina, meinen Gott in der Maschine gefunden.
Ich begann an der Achse zu ziehen, versuchte mit aller Gewalt die Zahnräder näher aneinander zu bringen, doch es gelang mir nicht und so schrieb ich mir Lars herbei, der mit mir anpackte und auch das englische Paar fasste plötzlich mit an, stand hinter mir wie es der Eisbär und die Matrosen aus dem Hafen von Reykjavik taten und plötzlich sprangen die Zahnräder in einander und begannen sich zu drehen.
Ein Raunen fuhr durch das Haus.
Ich löste das Ventil.
Alles begann sich zu drehen, alles begann zu tönen, aus den Obergeschossen hörte ich das leise Wimmern eines Orgelakkords, das lauter und lauter wurde, die Rokoko-Stühle schlugen aneinander, irgendwo begannen Glocken zu läuten, fügten sich in den Rhythmus ein, das Haus erwachte zum Leben, die Maschine erwachte zum Leben, der Boden begann zu Vibrieren, ein gleichmäßiges Schütteln und Rütteln, das durch den Boden fuhr, ich trieb die Maschine an und die Maschine trieb mich an, notierte ich als einer der letzten Sätze in mein Notizbuch.
Der Ingenieur stürzte die Stiegen hinunter, blieb in der Tür des Kesselraums stehen, hielt sich mit beiden Händen am Türstock fest, um nicht zu Boden zu fallen, während ich mitten im Raum stand und trotz der Schwingungen keine Mühe hatte, mein Gleichgewicht zu halten und ich schrie dem Ingenieur etwas zu, etwas wie: "Ich habe gewonnen." Ich zeigte auf das Loch in der Wand.
Ich hatte gewonnen.
Der Ingenieur löste die Hände vom Türstock und trat in den Raum. Auch er schien nun keine Mühe zu haben, sich aufrecht am Boden zu halten.
"Sind Sie sich sicher?" antwortete er, schrie er in den Raum hinein, denn es wurde schwerer und schwerer in diesem Getöse einander zu verstehen.
Er packte mich am Arm und zog mich zur Tür hinaus, die Treppen rauf, die Maschine war außer Rand und Band, die anderen Figuren rannten an uns vorbei, stolperten in einer Panik und Furcht übereinander, die ich ihnen auf diese Weise nicht auf den Leib geschrieben hatte.
Der Ingenieur führte mich zu dem verschlossenen Raum im Oberstock, kramte einen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss den Raum auf. Ein in Bettlaken gehüllter Apparat stand mitten im Raum, der zur Decke hin über ein großes Rohr mit dem Raum über ihm verbunden war.
Der Ingenieur riss die Laken vom Apparat.
Ein Schild kam zum Vorschein und ich erschrak.
Sunna, gebaut 1993, stand auf dem Schild.
Verstehen Sie jetzt? schrie der Ingenieur immer und immer wieder, aber ich war nicht fähig eine Antwort zu geben. Er klopfte mir unentwegt auf die Schulter und wiederholte den Satz.
Verstehen Sie jetzt?
Verstehen Sie es?
Irgendwann ging seine Stimme im Lärm der Maschine unter.
Danach wurde es still.