Von Karl Kreiner
Sunna'93 - Kapitel 3
Niemand, der nach Island fährt, schreibt über die Liebe, las ich in einem SMS von Elle. Ein Sturmtief hatte die Propellermaschine, die uns von London nach Island bringen sollte, zur Landung auf den Färöern gezwungen.
8. April 2017, 21:58
Wind jagte Wolken über die grünen Hügel vor der Ankunftshalle, zwei Mitarbeiter der Bodencrew arbeiteten sich über das Flugfeld zum Flugzeug vor, von hier, von der Wartehalle aus, sahen ihre Schritte mühsam aus, sie legten ihre Körper in den Wind, hielten mit beiden Händen ihre Kapuzen fest, um dem Regen etwas entgegenzusetzen, der jetzt, wie ich in mein Notizbuch schrieb, horizontal über das Flugfeld wehte.
Nicht viele Leute hielten sich an diesem Abend am einzigen Flughafen der Färöer auf. Ich notierte einen norwegischen Ölbohrturm-Techniker, der die tote Zeit zwischen An- und Weiterreise mit Bier, das er in regelmäßigen Abständen aus der Cafeteria holte, wegalkoholisierte. Er saß direkt an den großen Glasscheiben der Ankunftshalle, reihte die leeren Bierdosen am Boden wie Trophäen aneinander, blickte unentwegt aus den Fenstern, als gäbe es da draußen etwas zu sehen, ein Bild hinter der Nebelwand, das er nicht aus den Augen verlieren durfte. Unter dem Wartesessel hatte er eine Plastiktasche verstaut, aus dem ein Strauß Plastikblumen und eine Stoffgiraffe ragten.
Ihm gegenüber saßen ein älterer Herr und seine Ehefrau, aus einer südwest-englischen Kleinstadt, die, seit wir auf den Färöern gelandet waren, miteinander im Streit lagen, sich eine Reihe von Beleidigungen an den Kopf warfen und die ich schließlich aus verschiedenen Gründen bat, die Geschichte zu verlassen, da mir, als ich die Worte zu Papier brachte, auffiel, dass sich das ältere Ehepaar, aus einem anderen Roman, einer anderen Wartehalle auf einer anderen Insel hier eingeschlichen hatte.
Ich strich sie höflich mit einem schwarzen Stift, sie entschuldigten sich und verschwanden Hand-in-Hand durch die automatischen Türen der Ankunftshalle.
Niemand, der nach Island fährt, schreibt über die Liebe, las ich ein zweites Mal und beschloss dennoch über die Liebe zu schreiben, denn ich hatte mir meine Geschichte an einem verregneten Samstagnachmittag bereits ausgesucht. Genauso wie ich mir meine Geschichte ausgesuchte hatte, hatte sich der Ingenieur wohl mich ausgesucht.
Ich notierte eine hagere Gestalt, gut gekleidet, genagelte, braune Schuhe und einen maßgeschneiderten Mantel, schwarz. Sein Gesicht war kantig und knöchrig, hatte eine geometrische Strenge, die Strenge eines Denkergesichts, das kein Mitleid sondern nur Fakten kannte, sowie Augen, die voller Spott waren, deren Bewegungen samt dem genauso strengen Lächeln alles und jeden in der Umgebung beurteilten, ab-kategorisierten und ins Lächerliche zogen. Der Ingenieur lag gelangweilt in einem der Wartesessel zwei Reihen weiter, die Beine ausgestreckt, die genagelten, lackierten Schuhe glänzten im Neonlicht und wann immer jemand an ihm vorbei musste, so blieb ihm nichts anderes übrig als das Gepäck und die eigene Person umständlich über die Beine des Ingenieurs zu heben, wobei dieser die Person fixierte, seine Augen unaufhörlich jeder einzelnen Bewegung folgten, als würde er sie steuern, als würde er die Bewegungen dieser Person durch den Flughafen erdenken, als hätte er ihren Weg bereits vorbestimmt und vorgeplant.
Ich versuchte mich in mein Notizbuch zu vertiefen, doch es gelang mir nicht, immer wieder wanderte der Blick über den oberen Rand hinaus, vertiefte sich in den Einzelheiten des Ingenieurs, unfähig, das Gesehene, die Gesamtheit seiner Gestalt in Worte zu fassen, ich versuchte es, zog mein Notizbuch aus der Tasche, versuchte eine Skizze anzufertigen, versuchte bei den Fakten zu bleiben, aber es misslang, gleich als ob ein unsichtbarer Schutzschild den Ingenieur umgab, der jede Beschreibung von vorn herein unmöglich machte.
Etwas stimmte nicht.
Der Ingenieur gehörte nicht hierher und doch schien er vertraut, ein alter Bekannter den ich nicht zuordnen konnte. Alles war falsch an ihm, seine Gestalt leuchtete unnatürlich über die der anderen Passagiere hinaus, aber niemandem außer mir, schien dieser Umstand aufzufallen.
Als der Ölbohrturm-Techniker aufstand, um sich ein neues Bier zu holen, stand auch der Ingenieur auf, ging in langen Schritten auf mich zu, sein Mantel schwang dabei auf und ab. Er setzte sich mir gegenüber und schlug die Beine übereinander. Er sah mich lange an, musterte mich, ich war ihm nicht fremd, sah ich seinen Blicken an, nichts an mir war neu, ich war allerhöchstens eine Neuauflage einer Begegnung wie sie für ihn schon hunderte Mal vorher geschehen war.
Er breite seine Arme auf den Sitzlehnen wie ein Adler aus, der zum Sturzflug auf seine Beute ansetzte.
"Was machen Sie?" fragte er knapp.
"Ich arbeite", antwortete ich nach kurzem Zögern.
"Was machen Sie wirklich?"
"Ich schreibe Texte."
Der Ingenieur entgegnete nichts, als hätte er diese Antwort erwartet, sank genussvoll in den Sessel und leckte sich die Lippen. Der Ölbohrturm-Techniker kehrte mit einer neuen Dose Bier zurück an seinen Platz.
Auf dem Flugfeld sah ich das alte englische Ehepaar, das sich mit dem Bodenpersonal unterhielt.
"Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche", sagte der Ingenieur rätselhaft.
"Vergessen Sie die Details", fügte er hinzu.
Das Ehepaar auf dem Flugfeld verschwand.
Er griff in seine Mantelinnentasche, zog eine kleine, silberne Schatulle heraus und öffnete sie.
Er reichte mir eine parfümierte Visitenkarte, auf der ein Name stand, der mir vertraut erschien, darunter die Berufsbezeichnung Ingenieur, gefolgt von dem Hinweis: "Maschinen aller Art." Kontaktdaten fand ich weder auf der Vorder- noch auf der Rückseite.
"Ich kann ihnen helfen", sagte der Ingenieur und führte weiter aus: "Und ich denke, Sie können mir helfen."
Er stand auf, verabschiedete sich durch eine kleine und dennoch übertriebene Verbeugung, lächelte ein eisernes, überhebliches Lächeln.
Dann drehte er sich um und folgte dem Weg zum Ausgang.
"Wie meinen Sie das?" rief ich ihm nach.
"Es ist Ihre Geschichte", antwortete er und verschwand zur Tür hinaus.
Ich blieb ratlos zurück, versuchte mich auf meine Notizen zu konzentrieren, doch es gelang mir nicht, der Ingenieur geisterte als Echo durch meinen Kopf.
Kurz vor Mitternacht wurde der Flugbetrieb wieder aufgenommen, der Sturm und der Regen hatten sich gelegt, ich konnte wieder an die Liebe und die Geschichte in meinem Kopf denken, der Nebel verschwand über den Hügelspitzen, gab Grün frei und wir starteten kurz vor Mitternacht in einen weißen Himmel.