Von Karl Kreiner

Sunna'93 - Kapitel 5

Meine Ankunft in Island war eine einzige Lüge.

Ich wohnte unter falschem Namen in einem vier-Sterne Hotel in der Innenstadt von Reykjavik, weil es mein Beruf so wollte. Mein Beruf, notierte ich in meinem Notizbuch, glich der eines Agenten, wenngleich meine Aufgabe wesentlich ungefährlicher war.

Ich arbeitete in der Qualitätssicherung eines deutschen Ferien- und Urlaubskonzerns, der mit skandinavischen Hotelketten zusammenarbeitete. Zweimal im Jahr ging ich auf Reisen, verreiste unter Decknamen, nannte mich Pierre Chevalier und buchte Hotels, in denen ich je drei Nächte lang blieb, um verdeckt Missstände bei Freundlichkeit, Service, Essen und Zustand der Zimmer aufzudecken. Die Ergebnisse meiner Beobachtungen fasste ich spät in der Nacht im Schein einer Leselampe im Hotelzimmer in einem Formular zusammen, dass ich am Ende des Aufenthalts meinem Vorgesetzten faxte.

Ich checkte ein.

Ich checkte aus.

Ich wünschte "Alles Gute".

Man wünschte Pierre Chevalier alles Gute.

Ich wünschte mir Island wäre nicht Island, sondern Istland, aber tatsächlich war es Wäreland, eine endlose Kette an kleinen Lügen und großen Wünschen, eine endlose Liste an belanglosen Einfällen und Tätigkeiten, die mich nirgendwo hinführten.

Ich blieb zwei Tage im Holiday Inn.

Ich blieb zwei Tage im Hotel Edda.

Ich blieb zwei Tage im Yggdrasil Inn.

Meine Arbeit war anspruchslos, hielt den Kopf frei und so dichte ich Sunna'93 in all diese Orte, Sunna'93 war die verschlafene Ferialpraktikantin, die im Frühstückssaal des Holiday Inn kleine Kaffeetassen zu Türmen stapelte, präzise, so als ob Leben von diesen Frühstückstürmen abhängen würden, notierte ich, Sunna'93 saß hinter der Kassa, wenn sie in der Mittagspause aus ihrem Versteck unter der Kasse eine Schachtel Zigaretten zauberte, Sunna'93 war überall, alles war ver-sunnert, wie ich es in meinem Notizbuch vermerkte und aus meinem Vorhaben Geschichte zu schreiben, Sunnas und meine Geschichte, wurde eine Besessenheit. Unser Wiedersehen wurde von Seite zu Seite dramatischer, ich rettete Sunna'93 dreimal aus bedrohlichen Situationen, einmal aus einem Verkehrsunfall, ein zweites Mal aus einer Schlägerei und ein drittes Mal, weil Elle der Meinung war, dass alle guter Dinge drei waren, aus einem sinkenden Segelboot.

Für Elle rettete ich Sunna'93 dreimal.

Ich rettete mich vor Sunna'93 an einem Sommernachmittag in einen dunklen Kinosaal, setzte mich in die vorletzte Reihe, versank im Stuhl und folgte den Bildern eines isländischen Schwarzweiß-Films aus den Fünfzigern, verstand kein Wort und es tat gut, alles verschwand, Sunna'93, verschwand aus meinem Kopf, Elle verschwand aus meinem Kopf, ich sah wie sich die Strukturen von Reykjavik in ihre Bestandteile auflösten, die Farbe löste sich von den Häusern, Fassaden verschwanden und dort wo vorher bunte, skandinavische Häuser standen, standen nur noch tragende Elemente, Metallgerüste und dann verschwanden auch diese, wie die Menschen verschwanden, bis alles leer war in meinem Kopf und die Bilder des Films anstelle meiner Geschichte traten und ich ruhig wurde, mein Kopf verwandelte sich in einen langen, hohen, hohlen Raum.

Ich rette mich vor Sunna'93.

Der Ingenieur rettete mich vor Sunna'93.

Der Ingenieur.

Der Ingenieur, notierte ich und kam nicht dazu.

Der Ingenieur saß alleine hinter mir, in der letzten Sitzreihe, beugte sich nach vorne, seine Schuhe quietschten über den Boden, er griff mit einer geschmeidigen, langen Bewegung nach vorne und zog mir das Notizbuch aus den Händen.

Feigling zischte er, wie es nur Figuren aus Geschichten zischen können.

Feigling wiederholte er, lauter.

Ich suchte nach dem Mut, der mich an dieser Stelle eine Pause ertragen lassen würde.

Suchen Sie nicht nach dem Mut, sie werden keinen finden, fuhr es aus dem Ingenieur heraus, ohne auf die Lautstärke seiner Stimme zu achten. Ich hörte, wie er durch mein Notizbuch blätterte.

Sie sind ein Feigling und Lügner.

Er warf das Notizbuch zwischen die Sitzreihen und lehnte sich in den Sessel.

Wenn Sie an der Wahrheit interessiert sind, wenn Sie Sunna'93 wirklich sehen wollen, hole ich Sie morgen um Punkt acht Uhr in der Früh in ihrem Hotel im Foyer ab, begleiten Sie mich nach Isafjördur, in den Nordwesten, denn ihre magische Jugenderinnerung - er setzte beide Worte mit seinen Fingern unter Anführungszeichen - lebt in Isafjördur ein ganz normales, gewöhnliches Leben.

Wenn Sie aber Sunna'93 nicht sehen wollen, wenn Sie diese herbeigedichteten Unwahrheiten fortschreiben wollen, wenn Sie sich ihr Bild zurechtschreiben wollen, bleiben Sie auf ihrem Zimmer, schlafen sich aus und nehmen den nächstbesten Flug wieder zurück.

Die Geschichte geht auch ohne Sie weiter.


Er stand auf und zog sich seinen Mantel über und ging mit langsamen Schritten zum Ausgang.

An diesem Abend notierte ich nichts in meine Notizbücher.

In einer Bar trank ich ein Glas Bier, saß regungslos wie ein Chamäleon am Fenster direkt an der Straße, und beobachtete eine Digitalanzeige am gegenüberliegenden Haus, die sich nicht zwischen sechs und sieben Grad Lufttemperatur entscheiden konnte. Ich kehrte ins Hotel zurück und lag die halbe Nacht wach, versuchte zwei Metaphern zu verscheuchen, die sich in meinem Kopf festgesetzt hatten, zwei Metaphern, die Herkunft und Wesen des Ingenieurs erklärten wollten und beschloss schließlich, wenn auch mit einem unbestimmten Gefühl im Magen, den Ingenieur zu begleiten.