Von Karl Kreiner

Sunna'93 - Kapitel 8

Ich hatte nichts begriffen. Gar nichts.

Das wäre ein Anfang, sagte der Ingenieur. Es war früh am Morgen, der Ingenieur und ein Mann, dessen Gesicht ich vom oberen Stock aus nicht erkennen konnte, luden Kisten, schwere Metallkisten, in einen alten Schulbus amerikanischer Bauart, der vor dem Haus stand. Der Motor lief. Der Ingenieur sah zu mir herauf, sah, dass ich im Fenster stand und winkte mir zu. Er konnte nicht geschlafen haben, dachte ich und zog den Vorhang auf, die ganze Nacht hörte und notierte ich Geräusche aus dem Keller, Geräusche, aber er sah nicht müde aus, das Gegenteil war der Fall, mit Leichtigkeit hob der Ingenieur zwei Kisten in einem Stück in den Bus, während der bärtige, langsame Mann, Mühe hatte beim Transport einer Kiste vom Haus zum Bus das Gleichgewicht zu halten.

Ich zog mich an, ging die Stiegen hinab, kämpfte mich durch das Haus und an der Maschine vorbei zur Tür hinaus.

Ich denke, ich weiß, wo das Problem liegt, rief mir der Ingenieur ohne vorangegangen Gruß mit einer Selbstverständlichkeit zu, als wäre ich über Nacht sein Assistent, Partner oder Komplize geworden.

Er drückte mir einen Zettel in die Hand, auf dem Skizzen von Bauelementen zu sehen waren, detaillierte Bleistiftskizzen von ingenieurhafter Gründlichkeit, wie ich in meinem Notizbuch vermerkte. Ich überflog die Skizzen und Berechnungen, die am Rande eingefügt waren und mir wurde bewusst, dass all das Teil eines Wahnsinns sein musste, mir wurde bewusst, dass ich mir nicht einmal die Frage gestellt hatte, welcher Zweck der Maschine zugedacht war, aber mir wurde klar, dass ich Teil dieses Wahnsinns geworden war.

Ich beschloss Elle anzurufen, zog mein Handy aus der Tasche und wählte ihre Nummer, doch das Telefon verweigerte beharrlich eine Verbindung, leugnete die Existenz ihrer Rufnummer, ich versuchte es wieder und wieder, bis der bärtige, langsame Mann auf mich zu kam, ich erkannte sein Gesicht, es war der norwegische Ölbohrturm-Techniker, sein Gesicht lächelte mich jetzt milde an, ein Arm packte mich väterlich an der Schulter, seine andere Hand zog mir das Handy aus der Hand und mit leisen, englischen Worten sagte er etwas wie: "Es ist schon in Ordnung."

Der Ölbohrturm-Techniker schob mich in den Bus, wies mir einen Platz hinter dem Fahrersessel zu und ich nahm Platz, kauerte mich auf den Sessel und wartete dort wie ein Kind, das auf die Abfahrt des Schulbusses wartet.

Ich hatte die Kontrolle verloren.

Irgendwann, es konnten Minuten, es konnten aber auch Stunden vergangen sein, setzte sich der Bus in Bewegung, der norwegische Ölbohrturm-Techniker saß am Steuer, der Ingenieur auf einem behelfsmäßig eingerichteten Beifahrersitz, niemand sprach, das Wetter war für Island erstaunlich gut, ich dachte nichts, ließ die Landschaft an mir vorüberziehen, ich sah Schafe, die über Hügel zogen, Schafe, die Glocken mit rot gefärbten Lederbändern trugen und ich fragte den Ingenieur, warum die Schafe Glocken tragen würden und er antwortete ohne sich umzudrehen:

"Weil Sie es so wollten. Weil Sie es wirklich wollten."

Wir fuhren nach Isafjördur, dem Fjord entlang, hielten an einer Tankstelle, der Ingenieur wechselte mit dem Besitzer ein paar Worte, sie verschwanden in einem Nebengebäude, das eine Garage sein mochte und wenige Minuten später, kehrte der Ingenieur mit einem Radlager zurück.

Wir fuhren zur Fischfabrik und erhielten zwei Zahnräder. In der einzigen Autowerkstätte erbeuteten wir einen Keilriemen. Auf einem Bauernhof nördlich von Isafjördur, weit im Landesinneren, ein Kugellager.

Der Tag zog an mir vorüber, an den Busfenstern vorbei.

Stunde um Stunde.

Alles rückte in weite Ferne, notierte ich in meinem Notizbuch.

Ich begann durch die Geschichte zu treiben.

Und dann kam er.

Der Zorn. Ich fühlte, wie die Dämme nicht mehr länger hielten, wie sich der Zorn gegen den norwegischen Ölbohrturm-Techniker richtete, dem ich jetzt einen Namen, andichtete, Lars, schrieb ich in mein Notizbuch, ich fühlte wie sich der Zorn gegen den Ingenieur und Lars richtete, die Wellen schlugen hoch, mein Blick folgte ihrer Unterhaltung, eine norwegische Unterhaltung, die auf meine Anwesenheit keinen Wert legte und der Damm brach und ich schrie: "Wo ist sie ?"

Ihre Stimmen verstummten.

Der Ingenieur drehte sich zu mir.

Wen meinen Sie?

Im Rückspiegel konnte ich sehen, wie Lars lächelte. Der zweite Damm brach. Ich sprang auf, stürzte nach vorn, packte das Lenkrad, verkrallte mich am Lenkrad - nichts und niemand hätte diese Umarmung lösen können - und zog es so fest ich nur konnte nach rechts, der Bus kam ins Trudeln, die schweren Kisten im Gepäckraum kamen in Bewegung, der Bus drehte sich um die eigene Achse, der Ingenieur kippte samt Stuhl zur Seite, ich fiel auf Lars, der jetzt verzweifelt wie angestrengt versuchte den Bus zu bremsen.

Der Bus kam, quer zur Straße stehend, zum Stillstand.

Schafe blickten uns ratlos an.

Ich war außer Atem.

Die Türen des Gepäckraums hatten sich geöffnet, die Kisten lagen hinter uns auf der Straße verstreut, Metall glänzte in der Sonne.

Der Ingenieur fluchte leise in einer Sprache, die ich nicht verstand.

Lars stieg aus, machte zwei Runden um den Bus, um Schäden festzustellen und machte sich daran, die Ersatzteile, die der Bus über die Straße verteilt hatte, einzusammeln.

Gut, kommen Sie, sagte der Ingenieur und klopfte seinen Anzug ab.

Kommen Sie, wiederholte er harsch, nachdem ich nicht reagiert hatte.

Der Ingenieur verließ den Bus, verließ die Straße, ging querfeldein auf das Meer zu.

Ich folgte ihm.

Ich folgte ihm, hatte Schwierigkeiten Schritt zu halten, er schien über die Grasfelder zu schweben, ich hingegen versank im knietiefen Gras, stolperte über kleine Hügel, verlor immer mehr an Geschwindigkeit, der Ingenieur wurde kleiner und kleiner, verschwand im Gras, Wind setzte meinem Fortkommen alles entgegen, was er aufbieten konnte.

Vor der Klippe am Rande des Meers blieb der Ingenieur breitbeinig stehen und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken.

Erschöpft erreichte ich die Klippen, stützte mich auf die Knie, holte Luft.

Der Himmel über dem Meer war voller Vögel, schwarzer Rücken, weißer Bauch, orange-graue Schnäbel, ich hätte sie für Papageien gehalten, aber es waren keine Papageien.

Man nennt sie Papageientaucher, sagte der Ingenieur ruhig. Sehen Sie ihre Flügel?

Er streckte einen Arm aus und folgte mit dem Zeigefinger einem Vogel, der in scheinbar unkontrollierten Bahnen vom Wind über das Meer getrieben wurde.

Ihre Flügel sind nicht für das Fliegen ausgerichtet, sie sind viel zu kurz, sie lassen sich im Wind treiben.

Wir standen eine Weile nebeneinander, sahen zu wie Vögel von den Klippen starteten, weit ins offene Meer hinausgetragen wurden und dann wieder auf den Klippen landeten.

Warum glauben Sie, Sunna'93 noch nicht gefunden zu haben?

Ich verstand nicht, was der Ingenieur meinte.

Viele vor Ihnen waren der Meinung, dass man sich die Geschichte aussuchen kann, seinen Einfluss auf die Figuren ausüben kann, das Personal nach freiem Willen besetzen kann, vor sich hertreiben kann, aber alle waren sie im Irrtum, es ist meine Aufgabe, genauso wie der Wind diese Vögel hintreibt wohin er will, so erzähle ich sie wohin ich will.

Lassen Sie sich einfach fallen
, fügte er leise hinzu.

Zwei weitere Papageientaucher stürzten sich von den Klippen, schwebten auf das Meer zu, bevor sie ein Windstoß hoch in die Luft riss.

Er breitete seine Arme aus, schloss die Augen und holte tief Luft.

Der Wind wurde stärker, ich hatte Schwierigkeiten mich aufrecht auf den Beinen zu halten.

Wer sind Sie? fuhr es aus mir heraus.

Ich habe viele Namen, sagte der Ingenieur und strich sich verlegen durch die dünnen Haare, wenn Sie wollen, fügte er hinzu, notieren Sie Mephisto in ihrem Notizbuch, vor langer Zeit nannte mich jemand so. Ein ungestümer, unhöflicher Kerl, aber der Name hat mir gefallen und es ist selten, dass ich Teil einer Geschichte werde.

Er schüttelte seinen Kopf und ballte seine Hand spielerisch zu einer Faust.

Der Teufel?

So ein Unsinn, nein, der ist auch nur eine Figur.

Ich bin, wenn Sie wollen, die Angst des Tormanns vor dem Elfmeter, ich bin der Grund, warum Romeo und Julia nie ein Paar wurden, ich bin der Zorn in Bernhards Büchern und die Milde in Baudelaires Gedichten, ich bin der tiefste Abgrund, der in Ihnen steckt, in den sie keinen Blick wagen würden und ich bin der Grund, warum sie es dennoch tun. Ich bereite die Bühne, auf der Sie spielen, ich setzte Sie auf die Bühne und ich nehme Sie von der Bühne, wann es mir gefällt.


Ich begann zu verstehen.

Ich weiß, entgegnete der Ingenieur.

Kommen Sie, gehen wir zurück zum Bus, es wird kalt, bringen wir es zu Ende, finden wir Ihre Sunna.