Von Karl Kreiner

Sunna'93 - Kapitel 1

Karl Kreiner erzählt in "Sunna '93" nicht nur eine kafkaesk anmutende Geschichte. Er eröffnet darüber hinaus Einblicke in den Prozess des Schreibens selbst.

Ich wollte nach Island, um eine Geschichte zu schreiben.

Ich saß im Flugzeug, bereit zum Abflug, zog den Sitzgurt so fest ich konnte an mich, um nicht im Notfall aus dem Kurs geschleudert zu werden, drückte meinen Kopf auf die Nackenlehne und hörte dem Rauschen der startenden Turbinen zu.

Eine Stewardess zog an mir vorbei, plagte ihren Trolley auf kleinen, widerspenstigen Rädchen den Gang entlang und gab sich alle Mühe, dass ihr Lächeln nicht aus den Fugen geriet, auch nicht, als sich ein Rad am Haltegriff einer Handtasche verhedderte und ich für einen Moment lang den Zorn sehen konnte, der auf der Hinterseite ihres Lächelns tobte. Als sie den oberen Teil des Gangs erreichte, fixierte sie den Trolley mit einem kleinen Metallhebel auf der Unterseite, eilte im Laufschritt zur hinteren Seite des Flugzeugs zurück, um einige Minuten später mit einem baugleichen Trolley zurückzukehren.

Sie war ein moderner Sisyphos, der den Stein gegen einen Trolley getauscht hatte, dachte mein Kopf und ich stimmte ihm zu.

Ich wollte eine Geschichte schreiben und fragte mich, wie wohl mein Stein, mein Sisyphos-Stein aussah. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nichts vom Ingenieur, den ich noch treffen sollte, wusste nichts von der Maschine, die auf mich wartete, die der Ingenieur am Reißbrett in langen, weißen Nächten, alleine für mich entworfen hatte und die an dieser Stelle wohl einiges erklärt hätte.

Ich dachte nur an die Geschichte, die ich schreiben wollte, dachte in Strukturen, ich wollte in meiner Geschichte nicht vorgreifen, dachte ich, nicht Appetit auf Dinge machen, die dann in dieser Form dem Leser nicht serviert würden, dachte ich, während die Turbinen immer lauter und lauter wurden, einen treffenden ersten Satz wollte ich finden, der alles erzählte, alles sollte aus diesem Satz erklär- und ableitbar sein, das Flugzeug setzte sich in Bewegung, presste mich und den noch ungeborenen ersten Satz in den Sitz und hob schließlich ab.

Die Maschine dröhnte sich ihren Weg in den Himmel, notierte ich, ohne es zu wollen in meinem Kopf und beschloss sogleich diesen Satz wieder aus meinem Kopf zu entfernen und ihn zu Papier zu bringen, da er begann, die Sicht aus dem Bullauge zu verstellen, auf die Häuser und Felder, die jetzt kleiner und überschaubarer wurden, zu bunten Rechtecken verkamen und dann ohne weitere Ankündigung unter der Wolkendecke verschwanden.

Aus meinem Rucksack unter dem Vordersitz zog ich ein Notizbuch, ein dickes Buch mit schwarzem Einband und einem Lesezeichen, von dem ich glaubte, dass alleine dessen schicke, klassische Gestalt ausreichen müsste, um eine Geschichte in Gang zu bringen.

Die erste Seite forderte mich auf, meinen Namen in ein kleines Kästchen zu schreiben, doch ich wollte nicht und blätterte weiter.

Hoch über den Wolken, nachdem sich das Flugzeug vom kräftezehrenden Aufstieg auf die Reisehöhe erholt hatte, zog ich aus meiner linken Hemdtasche einen Stift, entfernte die Hülse mit den Zähnen und schrieb in mein Notizbuch:

Ich wollte nach Island, um meine Geschichte zu schreiben.