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September
Norbert Gstrein, "Als ich jung war"
Norbert Gstreins Roman ist das Ö1 Buch des Monats September.
1. März 2021, 16:21
Der 1961 in Mils bei Imst in Tirol geborene und heute in Hamburg lebende Schriftsteller Norbert Gstrein gilt als eleganter und anspruchsvoller Stilist. In seinem neuen Roman wird von einem Missbrauch erzählt und der Frage, wie dieses "Thema" in Literatur überführt werden kann.
Ex libris | 25 08 2019 | Rezension von Carsten Otte
Am Anfang schaut der Ich-Erzähler Franz auf seine Jugend zurück "Als ich jung war", heißt es in Gstreins neuem Roman, "glaubte ich an fast alles, und später an fast gar nichts mehr, und irgendwann in dieser Zeit dürfte mir der Glaube, dürfte mir das Glauben abhandengekommen sein." Dass dem jugendlichen Franz nicht nur der katholische Glauben, sondern das Glauben an jedwede Institution fremd wurde, hat maßgeblich mit den familiären Verhältnissen zu tun, in denen der Sohn eines Hotelbesitzers aufwächst.
Auf schmalem Grat
Als sich ein Unglück ereignet, ist Franz längst zu Hause ausgezogen, studiert mal Medizin, dann etwas lustlos Anglistik und Germanistik, übernimmt zur Abwechselung sogar noch mal den verhassten Job des Hochzeitsfotografen im elterlichen Hotel. So fotografiert er also die Braut, die später mit gebrochenem Genick unterhalb eines Felsvorsprungs liegt, und die Polizei sucht auf den Bildern nach Hinweisen auf den Tathergang. Zwar deutet viel auf einen Suizid hin, aber auch weil die Frau so gar nicht lebensmüde wirkt, als sie in die Kamera schaut, wird Franz verdächtigt, mit ihrem Tod etwas zu tun zu haben.
Dieser flüchtet nach Wyoming, in einen luxuriösen Ferienort namens Jackson. Dort schlägt er sich als Skilehrer durch und lernt einen tschechischen Raketenphysiker und Professor kennen. Es entsteht eine seltsame und etwas einseitige Freundschaft, die allerdings zentral wird für den weiteren Verlauf des Romans. Norbert Gstrein spiegelt sehr geschickt die Episoden in den USA an und mit den Figuren und Ereignissen in der österreichischen Heimat des Ich-Erzählers. So erscheinen die Vorgänge in Tirol zwar nicht unbedingt in einem anderen Licht, doch das Geschehen in der Ferne wirft erneut die Frage nach den vermeintlich eindeutigen Kausalitäten auf.
Der Verneblungskünstler
Norbert Gstrein ist ein großer Verneblungskünstler, und erst zum Romanende wird deutlich, dass die moralische und - nebenbei bemerkt - über jeden Zweifel erhabene Position des Schriftstellers sich in der literarischen Konstruktion verbirgt. "Als ich jung war" ist eine Art Rechenschaftsbericht, vielleicht sogar ein Bußgang des Ich-Erzählers, der seine Schuld offenlegen, der aber auch Schluss machen will mit dem quälenden Selbstmitleid und der sich letzten Endes nach Vergebung sehnt.
Wie auch in seinen vergangenen Romanen formt Gstrein schönste und grausamste Satzschlangen, in denen Doppelbödigkeiten und Widersprüche gekonnt eingebaut werden. Gerade weil die mediale Welt von Freund-Feind-Mustern geprägt ist, beschwört Gstrein die Kraft jener Literatur, die sich gegen allzu eilige Schlüsse wehrt.
Service
Norbert Gstrein, "Als ich jung war", Roman, Carl Hanser Verlag