APA/ROLAND SCHLAGER
1938-2022
Hermann Nitsch ist tot
Hermann Nitsch ist nicht mehr. Der Maler, Aktionskünstler und Komponist starb am gestrigen Montag im Alter von 83 Jahren. Die Kunstwelt verliert damit einen ihrer prominentesten Vertreter. Mit seinen Schüttbildern und archaischen Ritualen unter Verwendung von Tierblut und -kadavern polarisierte er wie nur wenige. Und doch stieg er damit vom Provokateur einer verschlafenen Nachkriegsgesellschaft zum arrivierten Großkünstler mit eigenen Museen und Engagement in Bayreuth auf.
20. Mai 2022, 02:00
ROLAND RUDOLPH
Ö1 Programmänderungen
Praxis | 20 04 2022
Zeit-Ton | 21 04 2022
Hörbilder | 23 04 2022
Lebenskunst | 24 04 2022
Menschenbilder | 24 04 2022
Er sei "sehr friedlich" eingeschlafen, so Rita Nitsch. Die ersten beiden Tage des im Vorjahr coronabedingt abgesagten 6-Tage-Spiel werden am 30. und 31. Juli dennoch stattfinden. "Das haben wir ihm versprochen".
Die Provokation stand nie im Zentrum seiner Arbeit. Nitsch wollte Intensives erschaffen. Dass es provoziert, habe sich ergeben, wie er stets betonte. So sind es die eindrücklichen Bilder aus Nitschs Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, die wohl am stärksten in Erinnerung bleiben werden. Menschen wühlen mit den Händen in warmen Tierkadavern und holen Gedärme hervor. Musik dröhnt. Ein mit verbundenen Augen an ein Kreuz gebundener Mensch wird kübelweise mit Tierblut überschüttet. Momentaufnahmen, mit denen zumindest bei den Beteiligten ein Ausnahmezustand erreicht werden sollte, der alle Sinne zum Schwingen brachte.
Nitsch im Ö1 Archiv
Vom Weltkrieg geprägte Kindheit
Dabei schien der beinahe archaische Naturbezug der Nitsch-Biografie keineswegs eingeschrieben, wurde der spätere Kunstdoyen, der mit Gottvaterbart, schwarzer Kleidung und Hut auch eine Ikone seiner selbst schuf, doch am 29. August 1938 in Wien geboren, nur wenige Monate nach dem "Anschluss" Österreichs an Nazideutschland. Seine Kindheit war von den Wirren des Weltkrieges geprägt. Der Vater starb darin, die Mutter zog ihren Sohn alleine auf. "Ich habe in diesem Alter schon wirklich Todesangst gehabt und begriffen, was es heißt zu sterben, die Wohnung zu verlieren und kein Zuhause zu haben. Ich glaube schon, dass diese dramatische Situation etwas bei mir hinterlassen hat", schrieb Nitsch einst in einem Katalogtext.
Wollte Kirchenmaler werden
Nach dem Krieg besuchte Nitsch in Wien die Grafische Lehr- und Versuchsanstalt mit dem Ziel, Kirchenmaler zu werden. Seine Beschäftigung mit sakralen und religiösen Themen begann zu dieser Zeit und sollte ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen. Mitte der 1950er-Jahre entstand seine Idee für das Orgien Mysterien Theater, prägend für alles, was danach kommen sollte. Basierend auf den griechischen Tragödien und beeinflusst von Expressionisten wie Georg Trakl, den frühen französischen Symbolisten und den Surrealisten wollte der Künstler damit eine Art Urdrama der Welt auf die Beine stellen, dass alle Konflikte der Menschheit verinnerlicht und abbildet.
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Hermann Nitsch
Wiener Aktionismus
In den frühen 1960er-Jahren gründete er zusammen mit Günther Brus, Otto Muehl und Rudolf Schwarzkogler die Bewegung des Wiener Aktionismus, der sich mit seinen Tabus ignorierenden Materialschlachten als Kontrapunkt zur vorherrschenden harmlosen Wohlfühlkunst verstand. Die Folgen waren ebenso radikal wie die Aktionen. Den internationalen Durchbruch brachte 1966 eine Einladung nach London zum "Destruction in Art Symposion". Nitschs Aktion vor internationalem Publikum wurde von der Polizei abgebrochen - es folgten Einladungen in die ganze Welt.
Nitsch ebenso wie seine Mitstreiter sahen sich mit harscher Kritik, Anfeindungen und gar Inhaftierungen konfrontiert. 1968 emigrierte der als Skandalkünstler Geltende deshalb nach München. Während er in seiner Heimat noch beschimpft wurde, stellten sich zu dieser Zeit im Ausland erste große Erfolge ein. So nahm Nitsch etwa 1972 an der documenta in Kassel teil, stellte in New York und London aus und verfolgte unbeirrt weiter seine Vision eines Gesamtkunstwerks.
Das Orgien Mysterien Theater
In greifbare Nähe rückte dessen Realisierung dann mit dem Erwerb von Schloss Prinzendorf in Niederösterreich Anfang der 1970er-Jahre. Nitschs Lebensmittelpunkt verlagerte sich wieder nach Österreich, und Prinzendorf wurde gleichsam zum persönlichen Grünen Hügel des Meisters. Das Anwesen wurde von Beginn der 1970er-Jahre an zum Austragungsort zahlreicher Aktionen des Orgien Mysterien Theaters.
Sein Ideal des 6-Tage-Spiels verwirklichte Nitsch, der in den letzten Lebensjahren immer stärker seine Musik der Schreichöre und Lärmorchester in den Vordergrund rückte, erstmals 1998 in Schloss Prinzendorf als Höhepunkt seines Schaffens. Die Veranstaltung führte zu einem enormen Medienrummel und sorgte für viel Erregung. Die letzte Realisierung der ersten beiden Tage seines im Vorjahr coronabedingt verschobenen 6-Tage-Spiels am 30. und 31. Juli wird Nitsch nun nicht mehr erleben.
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Nitsch-Museum in Mistelbach
Proteste von Kritikern und Tierschützern wie Ende der 90er Jahre sind dabei nicht mehr zu erwarten, hat sich doch längst der Erfolg auch in Nitschs Heimat eingestellt. Das Burgtheater adelte den Künstler 2005, indem es ihm seine Räume für eine achtstündige Aktion anbot. Der Österreichische Kunstpreis für bildende Kunst (1984) und der Große Österreichische Staatspreis für bildende Kunst (2005) sind nur zwei der vielen Auszeichnungen, die Nitsch erhielt.
Die mutmaßlich größten Auszeichnungen für den Künstler waren und sind hingegen die beiden Museen in Mistelbach und Neapel, die Hermann Nitsch bereits zu Lebzeiten gewidmet wurden. Und international erklomm Nitsch im Vorjahr den Wagner-Thron in Bayreuth, als er eine halbszenische "Walküre" mit einer gigantischen Malaktion in ein Farbereignis verwandelte.
Dass es dabei von Teilen des Publikums auch Unmutsäußerungen gab, irritierte den längst zum unangreifbaren Kunststar aufgestiegenen Nitsch nicht. "Ich habe mein ganzes Leben lang Buhs bekommen. Ich wäre traurig gewesen, wäre das nicht der Fall gewesen. Dann hätte ich wirklich gemerkt, dass ich alt geworden bin", unterstrich der Gesamtkünstler im Vorjahr gegenüber der APA: "Das ist wie ein Gewürz bei einer guten Speise."
Text: APA/Red., Audios: ORF